Mit dem Trainingsunternehmen aus Halle verbindet HCD eine lange Freundschaft und viele geteilte Grundüberzeugungen. Wir gratulieren herzlich zum 30-jährigen Jubiläum und freuen uns, dass Katrin Seidel für uns einen exklusiven Blick auf Herausforderungen und Lösungen bei Führung und Arbeitswelt der Zukunft wirft. Katrin Seidel ist der Kopf des Unternehmens bfkm, systemischer Coach für Mitarbeiter und Führungskräfte und begeisterte Unternehmerin. Die Themen Führung, neue Führung, Wandel der Arbeitswelt, Agilität und tiefe persönliche Weiterentwicklung von Führungskräften liegen ihr besonders am Herzen.

1. Liebe Katrin, wir haben in den vergangenen Jahren viel gemeinsam gemacht – zum Beispiel immer wieder auch im LiveCallCenterDesign by HCD der CCW. Was sind die großen Veränderungen bei Arbeit und Arbeitswelt und wie nehmen wir die Mitarbeitenden mit auf dem Weg in die Zukunft?

Große Veränderungen finden in der Arbeitswelt statt und in der Arbeit. Was ich ganz wichtig finde, Mitarbeiter mitzunehmen, ist der Punkt Agilität. Der ist mittlerweile in aller Munde und ist ja nicht nur positiv belegt. Viele Menschen oder viele Unternehmen sind schon bei der Agilität erste Schritte gegangen und haben einfach keine guten Erfahrungen damit gemacht. Für mich gibt es drei Punkte, die ganz, ganz essenziell sind. Der erste Punkt ist, wirklich zu verstehen und zu akzeptieren, dass Agilität kein Projekt ist, also nicht irgendetwas, was wir umsetzen und was dann fertig ist irgendwann. Agilität ist für mich ein Prozess, eine Wandlung, eine Transformation der gesamten Arbeitswelt. So wie damals die Industrialisierung ist es jetzt die Agilität.

Das Zweite, was ich extrem wichtig finde, ist, Mitarbeitern diesen Wandel überhaupt zu erklären, also sie mit ins Boot zu holen und zu begreifen, dass die Arbeitswelt sich ändert, dass sie eben von kompliziert zu komplex wird und dass wir deshalb andere Formen der Arbeit finden müssen. Dass es vielmehr in Teams, in eigenverantwortlichen Teams stattfindet und dass wir diesen Prozess üben dürfen, dass es hierfür keine Schablone, keine Checkliste gibt, sondern dass es ein bisschen ein Probieren und ein Erfahrungsammeln ist. Wenn ich das Mitarbeitern erkläre und wenn ich sie an diesem Prozess teilhaben lasse, dann ist das eine sehr, sehr gute Sache. Dann kann ich auch mal sagen: „Okay, was könnte denn bestmöglich dabei rauskommen? Was könnte denn die schönste Zukunftsvision sein, wenn wir hier Dinge umgestellt haben? Und was sind mögliche Bedenken, mögliche Ängste, mögliche Sorgen, Stolpersteine, die uns begegnen, die wir hierbei berücksichtigen dürfen? Wie kann ich vielleicht Kommunikationsmöglichkeiten schaffen, die mir zeitnah eine kurze Rückmeldung ermöglichen?“

Und der dritte große Punkt in der Veränderung der Arbeitswelten ist nicht zuerst die Frage zu stellen, wie will ich es verändern, sondern was an den Prozessen und Strukturen soll denn erst mal so bleiben wie es ist? Was in den Dingen ist denn so essenziell, dass wir sagen, da können wir uns gar keinen Versuchssballon mit Trial and Error erlauben? Ich glaube, wenn es wirklich kommuniziert wird als Prozess, wenn kommuniziert, dass es keine Schablone, keine Lösung gibt, sondern Versuche, Ausprobieren und Fehler, dann ist das einfach wirklich ein guter Weg, Mitarbeiter mitzunehmen.

2. New Work braucht nicht nur neue Arbeitswelten, sondern auch neue Führung. Worauf kommt es an?

„New Work needs Inner Work“ ist mein Vortrag, mit dem ich gerade unterwegs bin. Wir haben gelernt, aus der Kontrolle zu kommen. Wir haben gelernt Lob ist mal ok – wir müssen schon ein bisschen loben, aber das reicht dann auch. Wir haben gelernt, eher den Wettbewerb, die Konkurrenz zu befördern. Wir haben gelernt, Mitarbeiter wie so ein Bündel hinter uns herzuziehen, statt sie wirklich neben uns laufen zu lassen. Also New Work heißt, die Welt wird komplexer und ich kann als Führungskraft mit diesen alten Haltungen, also mit meinem Mindset und mit den Tools und auch mit den gespeicherten Vorannahmen von Reaktionen meine Führungsaufgaben gar nicht mehr bewältigen. Denn es braucht ein viel größeres Vertrauen. Es braucht eine viel größere Kompetenz, mich mit bestimmten Dingen auseinanderzusetzen, nämlich mich mit dir zu streiten im positiven Sinne. Es braucht ganz vielfältige Kompetenzen. Das sind: Menschenorientierung, Widerstandskraft, Beweglichkeit oder Drive, eine authentisch gefestigte Persönlichkeit und ein strategisches Denkvermögen.

3. Wie führt man denn Mitarbeitende an dezentralen Arbeitsorten richtig?

Ich möchte erst mal dieses „richtig“ in Frage stellen, weil es hier um den Umgang mit Menschen geht. „Richtig“ gibt es oftmals nicht mal in der Mathematik und Physik. Wir müssen uns also von diesem „richtig“ lösen. Was dieses dezentrale Führen an Herausforderungen stellt, ist zum Beispiel, dass wenn ich online mit Menschen arbeite oder mit Menschen im Gespräch bin, merke ich, dass ich viel mehr Energie brauche. Als ob dieses Online Format schon allein ein Stückchen Energie frisst. Ich brauche viel mehr Interaktion. Ich brauche viel mehr Bewegung. Ich brauche viel mehr Rückfragen, viel mehr Ausdauer, auch mehr Austausch, weil ansonsten Online mich mehr einlädt, mich zurückzulehnen. Das mal grundsätzlich zu Absprachen online.

Dezentral führen braucht aber auch viel mehr kontinuierliche Termine. So zum Beispiel mit jedem Mitarbeiter einen fünf Minuten Stand-up an jedem Morgen oder ein kurzes Meeting mit allen zusammen jeden Morgen, um sie alle abzuholen. Es braucht dieses „Ich nehme die Gruppe viel mehr zusammen“ und ich nehme trotzdem auch die Formate einzeln. Und das ist oft der große Stolperstein, dass ich das vergesse, mir diese fünf bis zehn Minuten Gespräche einmal pro Woche einzuplanen, in denen ich einfach nur kurz quatsche. Wie ist es? Wie läuft’s? Wo ich mir eine Rückversicherung hole, ohne ein Meeting draus zu machen. Ich brauche sozusagen die Fähigkeit, das, was zwischen Tür und Angel und in der Teeküche geschieht, auf Online zu verlagern und das im Fokus zu behalten, die Berührungen zu planen, die Berührungspunkte zu planen, ohne immer einen klaren Besprechungstermin daraus zu machen. Ich glaube, das ist die große Kunst, damit die Dinge einfach, die wir sonst so nebenbei fühlen oder die wir sonst so nebenbei ansprechen oder mithören, in die Sichtbarkeit gelangen können.

4. Und wie führt man sich selbst, wenn Gewohntes – Mitarbeitende, Kolleg:innen, Kantine etc. – fehlt?

Da kommen wir mal so ein bisschen zu Frage 2 zurück. Bisher hören wir oft „Was braucht eigentlich dieses New Work? Was ist neues Führen?“. Bisher haben wir häufig mit Führungstools gearbeitet oder Führung so gelebt, dass wir vorrangig reaktiv waren, statt agierend. Wir haben unser Handeln ganz oft so von Mitarbeiterreaktionen, von Stimmungen, von Zahlen, von bestimmten äußeren Faktoren abhängig gemacht. Das ist auch okay und das soll auch nicht weg sein. Was jetzt aber dazu kommt und was für diese Selbstführung immanent wichtig ist, ist der Punkt der inneren Führung, nämlich die Fähigkeit wirklich zu erlangen, selbst in meiner Reflexion Fortschritte zu machen, meiner Wahrnehmung, dem, was man so ein Stück ein bisschen Bauchgefühl nennt, mehr Raum einzuräumen.

Ich möchte betonen: Ich sage nicht, dass Zahlen, Daten, Fakten keine Rolle spielen. Die spielen eine sehr, sehr wichtige Rolle in der Unternehmensführung. Aber ich sage, dass es darum geht, den Bereichen der „ich habe hier eine Wahrnehmung“, „ich habe hier ein Bauchgefühl“ ein Stück mehr Raum zu geben. Weil, nicht mal nur, dass es mir selbst eine andere Stabilität, eine größere Stabilität gibt, sondern es geht auch wirklich darum, ich kann mich nicht permanent so kurz updaten und rückversichern. Ich brauche also auch dieses Vertrauen in mich und meine eigenen Entscheidungen, meine Wahrnehmung. Und damit loszuziehen und das abzugleichen – darum geht es. Von innen heraus geführt, das nach außen zu tragen und damit auch viel mehr in die Gestaltung zu kommen, in die Gestaltung von Prozessen, in die Gestaltung aber auch von Räumen, wo ich unterschiedliche Meinungen einhole und dann den Prozess einer gemeinsamen Entscheidungsfindung fördere.